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Den Tag leben ...

Gegenwart
"Die einzige Zeit, die uns gehört, ist die Gegenwart. Trotzdem leben die meisten teils in der Vergangenheit - von der sie rückwärtsblickend zehren oder die sie beklagen, statt aus ihr zu lernen -, teils in der Zukunft - indem sie sie bereiten, demnächst zu leben, und so gleichfalls das allein Wirkliche versäumen: die Gegenwart."
(KOS)

Um was es geht...

Die durchlebte Lebensspanne ist eine Folge von Tagen, die man einen nach dem anderen (er)lebt.
Doch wie nutzt man diesen Tag?
Einen großen Teil seiner Gedanken- und Lebenszeit verschwendet man sicherlich mit dem Denken oder Erinnerungan Vergangenes - derart, dass man über Fehler der Vergangenheit nachgrübelt oder derart, dass man dem Vergangenen in Erinnerung nachhängt, in der Vergangenheit lebt.
Wahrscheinlich ebensoviel Gedankenzeit vergeudet man mit dem Planen der Zukunft, mit Hoffnungen oder mit Sorgen.
Zwischen Zukunft und Vergangenheit liegt die Gegenwart, das Jetzt, als eine dünnste, infinitesimale Trennfläche.
Aber genau hier findet das bewusste Leben statt, ja: muss es stattfinden, denn die Vergangenheit ist nur noch ein lebloses Erinnerungsbild - ein Bilderbuch dessen Bilder immer mehr verblassen; die Zukunft ist im Werden, ist Möglichkeit, nicht Realität.

Viele betäuben sich durch ständige Beschäftigung, zerstreuen ihre Kräfte, in Gedanken hin- und herschwingend zwischen dem wilden Durcheinander der Sinneseindrücke.
Kaum jemand denkt wirkich tief, kaum jemand lebt wirklich - man wird gedacht, man wird gelebt und hat letztlich das Leben versäumt.

"Ihr Leben ist in die Tiefe entschwunden, und so, wie es nichts hilft, dass man noch so viel hineingießt, wenn unten nichts ist, was es aufnimmt und hält, so kommt auch nichts darauf an, wie viel Zeit sie hinter sich brachten, wenn nichts da ist, woran sie haften bleibt. Durch schadhafte und durchlöcherte Seelen rinnt sie hindurch.
Die Gegenwart ist überaus kurz, so dass sie manchem wie gar nichts vorkommt; denn sie ist immer im Lauf, sie stürzt dahin, hört eher auf, als sie kam, und duldet keinen Stillstand. Dem Vielbeschäftigten gehört also bloß die Gegenwart, und gerade sie entzieht sich dem nach zu vielen Seiten hin Zerstreuten - dann klagt er, dass das Leben zu kurz sei.
... Ein Leben, das fern von solcher Hetze verläuft, ist niemals zu kurz. Denn nichts davon wird verstreut, nichts dem Zufall überantwortet, nichts vernachlässigt und verschenkt, nichts ist überflüssig, es ist sozusagen ganz auf Zinsen angelegt. Wie kurz es daher auch sei - für den, der sich von seiner Zeit nichts wegnehmen lässt, der die Gegenwart zu nützen gelernt hat, ist das Leben immer lang genug.
Es steht ihm jederzeit zur Verfügung. Kein Augenblick bleibt ungenützt und unausgefüllt, keine Minute wird vergeudet.
"
(Seneca)

Es bringt nichts, lange zu leben, wenn das Leben leer ist. Leer ist das Leben, wenn es den leeren Hüllen des Vergänglichen frönt. Man verhält sich wie ein Krämer, der alle möglichen Dinge ansammelt, die dann in seinen Lagerräumen verstauben und nie genutzt werden.
Volles Leben ist nur möglich dem, der das Leben versteht, die Lebendigkeit und schöpferische Kraft in jedem Augenblick durch ihr vergängliches Formenspiel hindurch erkennt.
Nicht die zeitlich sich verändernden Formen sind das Leben - sie sind lediglich sein Ausdruck. Das Leben ist der rote Faden der alles durchzieht. Die sinnlich wahrgenommenen Ereignisse sind die Perlen, die an dieser Schnur aufgereiht sind.
Leben heißt nicht das, was die meisten darunter verstehen: die Strohfeuer sinnlicher Vergnügungen und Belustigungen - Leben zielt auf das Wesentliche hinter den Dingen, heißt: den roten Faden finden und ihm folgen!

"So viele begehren ein langes Leben, aber in Wirklichkeit ist es ein tiefes Leben und sind es die großen Augenblicke, worauf es ankommt. Nimm das Maß und den Ablauf der Zeit geistig und nicht mechanisch. Ein Augenblick der Einsicht, ein Moment persönlicher Beziehungen, ein Lächeln, ein Blick - was für Anleihen machen sie bei der Ewigkeit!
... Weil sich hinter jedem flüchtigen Augenblick immer die ganze Ewigkeit verbirgt, gilt es, uns nicht der Aufgabe zu verweigern, welche die Stunde uns bringt, um einer ehrgeizigeren willen. Der höchste Himmel der Weisheit ist von jedem Punkt aus gleich nahe, und du musst ihn, wenn überhaupt, durch eine dir allein eigene Methode finden.
Alle Zukunft bietet keine zweite solche Gelegenheit, wie es der jetzige Augenblick tut, wenn sie nur erkannt und sofort genützt wird.
Der Weise schiebt das Leben nicht für später auf, sondern lebt es jetzt.
Die Stunde füllen - das ist Glück. Füllt meine Stunde ihr Götter, damit ich nicht, wenn ich dies oder jenes tat, sagen muss: "Siehe, wieder eine Stunde dahin!", sondern froh bekennen darf: "Ich habe wieder eine Stunde gelebt!"
Nur der ist reich, dem der Tag gehört. Von allem, was auf Erden ist, machen die Tage die geringsten Ansprüche und vollenden die größten Leistungen. Sie kommen und gehen wie verschleierte Gestalten, die aus fernem Freundesland gesandt sind; aber sie sprechen nicht, und wenn wir die Gaben, die sie bringen, nicht nützen, nehmen sie sie ebenso schweigend wieder fort.
... Bereichern kann mich nur, wer mich die Spanne Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang höher achten und weiser nützen lehrt. Das ist das Maß des Menschen: seine Auffassung von der Bedeutung des Tages. Für die noch Lebensblinden ist jede vorübereilende Stunde Zeit, nicht Ewigkeit. Sie ist entweder Hoffnung oder Erinnerung, das heißt: sie ist der Weg zum Glück oder vom Glück, aber nie das Glück selbst.
Wohl dem, der die gegenwärtige Stunde als die entscheidende Stunde und jeden Tag als den besten Tag des Jahres erkennt und nützt. ...
"
(Emerson)

"Wieviel müssen wir an einem einzigen Tag schon aufgeben, wenn wir am Abend sagen wollen, dass wir gelebt haben.
Da ist vor allem: jeden unnützen, gehaltlosen, unlieben Gedanken, jeden Gedanken, der einen anderen Menschen schädigend ergreifen könnte, jeden Gedanken an eigenen Vorteil, jeden Gedanken der Verzagtheit, der Furcht und Lebensmüdigkeit, jeden Gedanken der Weltlust, jeden Falschgedanken, als ob Gott und wahres Menschenwesen in Wahrheit voneinander getrennt wären.
" (Finck)

Was wäre, wenn ich um die Ereignisse meiner Zukunft wüsste oder gar den Tag, die Stunde meines Todes kennte?
Im ersten Fall würde mir die Motivation zu leben und streben fehlen, da ich ja alles schon wüsste. Ein solches Leben böte keinerlei Entwicklungsanreize und wäre sinnlos.
Im zweiten Fall würde die Lebensangst mit zunehmenden Alter oder abnehmenden zeitlichen Abstand zum Tag X wohl stetig wachsen, diese Todesangst würde alles überschatten.
Wirken und Wachsen und leben im Jetzt kann ich nur, wenn die Zukunft offen und unbekannt ist, kein Wissen über künftiges Geschehen mich hemmt.

"Fragen, die wir über unsere Zukunft stellen, offenbaren etwas unserem innersten Wesen Fremdes. Gott hat auf solche Fragen keine Antwort - nicht als Folge eines willkürlichen Ratschlusses Gottes, sondern weil es in der Natur des Menschen begründet ist, dass ein Schleier das Morgen verhüllt. Unsere Seele will uns keine andere Geheimschrift lesen lassen als die von Ursache und Wirkung. Durch diese Verhüllung, die uns die Geschehnisse der Zukunft verbirgt, lehrt sie uns, ganz dem Jetzt, dem Heute zu leben. Die weiseste Weise, eine Antwort auf die sinnenbedingten Fragen nach dem Kommenden zu erhalten, ist die, statt der Neugier zu frönen, sich dem Strom des Seins hinzugeben, der uns in das Geheimnis der Natur hineinträgt und uns lehrt zu leben und zu wirken, immer wieder zu leben und wirken. Dann hat die vorwärtsstrebende Seele erfinderisch neue Zustände geschaffen - und Frage und Antwort sind dann eins."
(Emerson)

"Nicht der Tag soll mich machen, sondern ich will den Tag von seinem Anfang bis zu seinem Ende bewusst gestalten.
Baumeister in der Zeit – müssen unsere Hände gefüllt sein mit dem ewigen Baustoff. Wie ein Bau erhebe er sich auch nur ein Weniges über die Erde, auf zeitlichem Fundament ruht, aber sogleich in die Lichtregion hinaufragt, so findet der Gedanke, aus enger Körperform gelöst, sein himmlisches Gebilde im sicheren Aufbau."
(J.F. Finck)