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Lebensangst

"Wohin gehst du?", fragte ein Pilger im Osten, als er eines Tages der Pest begegnete.
"Ich gehe nach Bagdad, um fünftausend Menschen zu töten", war die Antwort.
Einige Tage darauf traf der Pilger die Pest wieder bei ihrer Rückkehr.
"Du hast mir gesagt, du wolltest nach Bagdad gehen und fünftausend Menschen töten", sagte er, "aber stattdessen hast du fünfzigtausend getötet."
"Nein", antwortete die Pest, "ich habe bloß fünftausend getötet, die anderen starben vor Furcht." (RWT1)

Vom Wesen der Lebensangst

Das Leben des modernen Menschen ist geprägt von der Lebensangst. Sie richtet ihn aus und richtet ihn zugrunde, in ständigem „Hasten und Hetzen“ jagt er ständig neuen Sinneseindrücken, Ablenkungen hinterher, nur um der inneren Leere, dem Schweigen zu entfliehen, die er fürchtet, wie den Tod – sind beide doch das Ende jener Unrast, die ihn treibt.
Überall wird angstvoll jede Leere mit irgendeiner Tätigkeit vollgestopft, auf dass der Strom der Ablenkungen bloß nie versiegt, man unaufhörlich weiter getrieben wird.
Es gibt keine Zeitungen mit leeren Seiten. Keine Minute der Sendezeit im Radio oder Fernsehen ist still oder bildleer…
Lärmende und plappernde Spaziergänger zerreißen die Ruhe des Waldes – Jogger mit Ohrstöpseln, Radfahrer im sportlichen Leistungswahn rasen über die Waldwege, überall irgendwelche Hinweistafeln an den Bäumen, ähnlich dem Schilderwald, dem Plakatwald auf den Straßen …Ablenkung, Unruhe überall.
Überall das Davonlaufen vor sich selbst, die Sinnenübersättigung.-Überall läuft die Lebensangst mit.
Ständiger Konsum nur um des Konsums willen.


„Tag und Nacht zehrt die Lebensangst am Mark des Lebenden. Durch alle Ritzen und Spalten kriecht sie hinauf; kein Eisentor schützt vor ihr und kein Besitz.
Auf den Millionär wirft sie sich und treibt ihn, Hunderttausende und Millionen aufeinander zu häufen – rastlos, sinnlos, zwecklos; denn im Innersten quält ihn die Angst, er sei immer noch nicht genügend für die Zukunft gesichert, noch nicht ausreichend gegen Überraschungen gefeit.
Über die Könige kommt sie gerade dann, wenn sie sich eben an ihrer Macht berauschten; plötzlich erschauern sie in der Angst, ein Sturmestag könne all die Herrlichkeit in Fetzen reißen. Sie wühlt und bohrt unablässig, die Lebensangst, die Sorge um den nächsten Tag…
Die Lebensangst ist es, die heute überall in der Welt die Räderwerke treibt, die Schiffe über die Ozeane jagt, die Hochöfen entfacht, den Erdboden mit Schächten durchzieht. All das Rasseln, Brausen und Tosen der Maschinen und Geräte ist ein einziger Schrei der Angst. Zehntausend Jahre Kultur – und immer noch die Furcht vor dem kommenden Tag!“
(GWS1)

Diese Angst, diese „Sorgen der Welt“ lenken mich von mir selbst ab, führen zur Zersplitterung meiner Gedanken und Gefühle, zur inneren Zerrissenheit.
Oberflächlich zeigt sich die Lebensangst als Angst vor den Gefahren des Lebens, die kommen könnten, die überall lauern und erfahrungsgemäß doch nie eintreffen und wenn, dann meist in ganz anderer Form.
In ihrer Tiefe sind diese Ängste unbestimmt, nicht wirklich greifbar, lauernd und dadurch so gefährlich.

Tiefer gesehen wurzelt diese Angst im fehlenden Vertrauen in das Leben und in sich selbst, im krampfhaften Versuch das Vergängliche festzuhalten.
Doch immer ist mir dieses einen Schritt voraus, wandelt stetig seine Form, stirbt und entsteht neu, so dass ich immer nur nach seinem Gewand greife, ohne je etwas Wesentlich-kernhaftes zu greifen, in Händen zu halten, das mir nicht durch die Finger gleitet.
Ihr eigentlicher Motor ist die Angst vor dem Tod und somit die Angst vor dem Leben, das sich ja unaufhaltsam auf den Abgrund des Todes hin bewegt und dort abrupt zu enden scheint, zumindest das körpersinnliche Leben …

Die Lösung liegt darin, diesen Sinnen- und Gedankenzirkus zu durchschauen, zum unbeteiligten Betrachter all dieses Treibens zu werden und vom Getriebenen selbst zum Treibenden zu werden.
Richte ich meinen Blick vom Vergänglichen hin zum Unvergänglichen, so finde ich Ruhe, werde wesentlich.

„Das Denken macht nichts als Qualm … durch Sehnsucht nach dem Morgen, durch Gram und Sorgen, so dass die Flamme schließlich ersticken muss. Wenn sich der Qualm verzieht, dann brennt die Flamme.“ (Krishnamurti)