Seelenblicke
Seelenblicke sind Betrachtungen von Ereignissen und dem Versuch die Sinnhaftigkeit ihres Geschehens zu verstehen, sie in einen größeren Sinnzusammenhang zu betten oder ihr Grundmuster zu erkennen, nach dem Motte "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis."
Seelenblicke sind Betrachtungen mit den Augen der Seele.
Der Nachmittagszug ist fast leer. Man spürt nichts von dem hektischen Treiben des Morgenzugs. Im Nachmittagszug sitzen nur Leute, die müde sind; Leute deren Arbeitstag beendet ist.Der Bahnhof erinnert mich an eine Geisterstadt. Die Luft ist erfüllt von einer depressiven Stimmung. Man sieht nur Ausländer, geistig oder körperlich behinderte Menschen, Arbeitslose, herumgröhlende Jugendliche in Bomberjacken und Springerstiefeln mit Bierdosen und alte Menschen.Ein typisches Bild für die Stimmung in der Stadt - mit den Ruinen des Hüttenwerkes und dem riesigen, neugebauten Arbeitsamt und dem großen Einkaufszentrum – ein ebenso typisches Bild für die Stimmung im Land
Als das Hüttenwerk noch in Betrieb war, lebte die Stadt, nun ist Ihr Herz geschwächt, das Blut ist leblos, der Blutdruck schwach – die Ströme der Arbeiter sind fast versiegt, die Geldströme in die Haushalte ebenso.Die einzigen, die morgens den Zug verlassen, sind lärmende Berufsschüler und Umschüler des Arbeitsamtes, Leute ohne Perspektive - nur sehr wenige, die arbeiten gehen und Geld verdienen. Das pulsierende Leben ist nun irgendwo anders, weit weg. Die Leute, die nachmittags mit dem Zug zurückfahren, scheinen, wenn überhaupt, keine sehr ausfüllende Arbeit zu haben, ihre Gesichter verraten es.
Die alte Frau und ihr Mann betreten das Abteil. Sie setzen sich ans Fenster direkt vor der Durchgangstür. Die alte Frau schaut ständig aus dem Fenster, nachdenklich ...„...E. ist jetzt auch schon ein Jahr tot...“
Sie hustet, der Mann bietet ihr ein Bonbon an.
Beide tragen einen dicken, robusten Ehering um ihre dicken Finger. Beide sind von kleinem, aber robustem Körperbau. Sie sind wohl schon lange zusammen und haben viel gemeinsam erlebt. Draußen zieht die Landschaft vorbei. Der Zug hält noch in einigen anderen Geisterstädten.
„... der Unterwert darf nicht weit über 80 gehen ...sonst hat man´s am Herz....“
„130 zu 97, 97 ist zu hoch ..“, erklärt sie ihrem Mann.
„...du hättest sagen sollen, dass du es am Herz hast ...“
Beide machen sich Gedanken über den Tod, er steht bereits ganz in ihrer Nähe. Tod ist das Ende der Bewegung, die man Leben nennt. Der Zug hat seinen Bestimmungsbahnhof erreicht, er bremst ...
Auf dem Rasenplatz laufen Jugendliche einem Ball nach – Fußballtraining an diesem Sonntagmorgen, keine Mannschaften, die gegeneinander spielen, ungerichtet der Spielablauf, ungerichtet auch die Reaktionen, der eher teilnahmslosen Beobachter am Rande, keine Kommandorufe, wie bei Spielen üblich.
Mein Weg führt in eine Art Wiesensenke, über einen Schotterweg. Die Gräser strecken ihre Arme weit in den Weg hinein, als wollten sie den Spaziergänger zupfen, um ihm etwas vertraulich leise zu zuflüstern ... Bewegung kommt in die Blätter der Baumkronen, der Wind hat ihnen den Eindringling verraten, nun scheinen tausende von Blättern zu tuscheln über ihn, so laut, dass ein fast bedrohliches Rauschen daraus wird, wie das Rauschen der begeisterten Masse in einer Arena. Der Wiesenhang erinnert mich an die Reste der Tribünen des circo massimo in Rom.
Eine kleine Lichtung öffnet sich, gesäumt von einem Blättertor. Fast ist mir als läge ein Geheimnis dort verborgen, ein Schatz, den die Blätter durch ihr wildes Rascheln zu schützen suchen, den Eindringling einschüchternd, fernhaltend, ablenkend.
Vielleicht findet sich dort jenes Buch, das die Sprache der Natur erklärt, die wenigen einfachen Buchstaben und Worte, mit denen man die gesamten Naturerscheinungen buchstabieren, sprechen, lesen kann?
Im noch ungemähten Gras fällt das Gehen schwer, den Hang hinauf, Tränen der Nacht hängen noch an den Halmen, den Gräsern, in denen der Tag sich in Millionen kleiner Äuglein spiegelt ...Ich bemerke, dass meine Schuhe nass sind, als ich wieder die feste Straße betrete, auf der es sich so viel leichter geht, sehe die Jungen noch dem Ball nachlaufen, frage mich, was wohl hinter dem Blättertor verborgen war, hätte ich es finden können, heute?
„...ab und zu will man ja etwas Neues ausprobieren und traut sich nicht. Manchmal braucht man jemanden, der einem zeigt wie. Und dann denkt man sich: Das ist hübsch “, sagt die Friseuse, als sie der schwarz gekleideten Frau ihre braunrot gefärbten Haare in Alufolie wickelt, um sie zu strähnen. Vor mir im Spiegel sehe ich mein Spiegelbild und denke an mein Spiegelbild vor zehn, vor zwanzig Jahren und an jenes in zehn, zwanzig Jahren. Auch ich möchte gerne noch Neues ausprobieren, traue mich teilweise nicht, will mir aber auch von niemandem Vorschriften machen lassen.
Rechts oben, neben dem Spiegel hängt eines jener makellosen Schönheitsgesichter, faltenfrei, lächelnd, saubere Zähne, perfekte Frisur – scheinbar ein zeitlos junger, sorgenfreier Mensch, ohne Kummerfalten. Diese Gesichter hängen überall an den Wänden, nebenan im Einkaufszentrum habe ich noch keine solchen Gesichter herumlaufen gesehen, im Friseursalon, auf den Stühlen, sitzen auch keine.
Ich frage mich, ob Künstler wie Dürer oder Holbein auch zumindest bei Auftragsarbeiten solch idealisierte Menschen gemalt haben, Makel, wie z.B. Pockennarben einfach übermalten?
Mein Blick geht schräg nach links unten und fällt auf die Füße der schwarzgekleideten Frau. Ihre Haut ist fast so rötlich braun wie ihre Haare. Möglicherweise war sie in Urlaub, denn es ist keine natürliche Farbe. Auf dem Fußrücken des linken Fußes haben sich Schuppen gebildet, die Haut beginnt sich abzuschälen, die künstlich gebräunte Haut – ihre natürliche Hautfarbe wird wieder sichtbar: Schein wird ersetzt durch Sein. Sie hat keine schönen Füße, leicht klumpig, ausgetreten, jedoch nicht unförmig. Sie steht womöglich viel.
Ich erinnere mich an die wohlgeformten, gepflegten Füße einer sehr gepflegt aussehenden Frau in Venedig. Sie belastete ihre Füße sicherlich nicht sehr stark. Auch denke ich an die Füße griechischer oder römischer Statuen, die alle gleich aussehen, standardisiert, idealisiert. Füße sagen, wie auch Gesichter, sehr viel über einen Menschen aus.
Die schwarz gekleidete Frau dürfte ihrem Gesicht nach zu urteilen ungefähr 40 Jahre alt sein, das gleiche verraten ihre Füße. Die Friseuse bietet ihr einen Kaffee und „Etwaszulesen“ an, bis die Strähnen fertig sind und die Frau den Schönheitsgesichtern näherkommt, obwohl sie in dieser halben Stunde auch wiederum unmerklich gealtert ist.
Der etwas ältere bärtige Mann küsst den jungen, blonden, kahl rasierten Mann, der ihn erwartete, auf den Mund – fast könnte dieser der Sohn von jenem sein, aber aus der Art der Begrüßung kann man eindeutig auf einen anderen Zusammenhang schließen.
Es ist kalt, sehr kalt an jenem Abend. Man wagt es kaum sich auf die kalten, glatten Holzbänke zu setzen. Die eiskalte Luft bedrängt einen überall, bewegt sich frei und ungehindert in der Halle, umschlingt den Körper mit ihren eisigen Armen, küsst die Wangen, die Ohren mit ihren eisig kalten Lippen, wie eine eisgeformte Frau, die einen aus Eiskristallen gewobenen Schleier hinter sich herzieht. Ihre kalte Umarmung entzieht Lebenswärme, lässt den Körper zittern, kann töten.
Ein Mann mit extrem kurz rasiertem Haar setzt sich mit eng übergeschlagenem rechtem Bein auf die kalte, glatte Holzbank, ein Buch vor sich haltend, sich warm lesend an Sprachbildern.
Ein anderer, ungepflegt aussehender Mann um die fünfzig steht nahe einer der Türen, unempfindlich, trotzend der Kälte, die ihn scheinbar übersieht mit seiner Bierdose mit der er sich Wärme einschüttet.
Ich suche eine warme Nische, sehe die Tür zur Toilette. Man muss 50 Cent zahlen, aber vorher den Schlüssel in der Bahnhofskneipe abholen, in der man sich auch aufwärmen könnte. Ich lenke mich ab, indem ich mit den Fingern der rechten Hand die Schließfächer entlang gleite, den Fotoautomaten begutachte, die Menschen in der Halle beobachte.
Eine junge Frau mit rot gefärbten Haaren und langem dunklen Mantel steht in einer Nische vor der anderen Türe und blickt schüchtern neugierig herüber. Auch ihr Anblick bringt einen kurzen angenehmen Augenblick der Wärme. Doch kann man der Kälte nicht entfliehen in dieser Halle mit all den Menschen, die sich an jenem Abend dort aufhalten, nach Nischen suchen, eine Art von Problemgemeinschaft bilden, ohne sich zu kennen oder auch je wieder zu sehen.
Sie schlurft etwas schwerfällig mit ihren Sandalen über die schon deutlich sichtbar abgenutzten, rötlich brauen Fliesen ihres Balkons, den Wäschekorb vor sich hertragend, ohne diese Geste jedoch besonders zu betonen, dazu hat sie diese in all den Jahren schon zu oft ausgeführt.
Alle Handgriffe sind Routine. Sie nimmt jedes einzelne Wäschestück, hängt es sorgfältig auf eine dünne Rippe des Wäscheständers, zieht den Stoff des Kleidungsstückes etwas auseinander und befestigt an jedem Ende eine Wäscheklammer. Fast maschinenhaft muten ihre routinierten, tausendfach eingeübten, automatenhaft ausgeführten Bewegungen an. Vor dieser Routinetätigkeit lag eine andere Routinetätigkeit, hat sie das Treppenhaus geputzt, nachher folgt die nächste Routinetätigkeit, das Kochen – eine tägliche Variation aus einer festen Anzahl von Pflichten.
Auch ihr Mann ist in dieser Routine gefangen, passiv, prägt den Rhythmus durch seine Routine durch seine Gewohnheiten jedoch mit: den Zeitpunkt, zu dem er morgens aufsteht, zur Arbeit geht, den Zeitpunkt, zu dem er nach Hause kommt, isst, Zeitung liest, fern sieht ...
Keiner der beiden könnte eigentlich sagen, wer für den Rhythmus, die Routine verantwortlich ist, wer das Schema, dem sie folgen, festgelegt hat. Früher, als sie noch jünger war, träumte die Frau oft davon dieser Routine zu entfliehen. Aber wie, wohin?
Flieht man, fällt man dann nicht auch wieder von einer Routine in die andere?
Ohne ein gewisses Maß an Routine, an Sicherheit kann kein Mensch leben. Würde man jeden Morgen irgendwo anders, in einer völlig fremden Umgebung aufwachen, mit völlig fremden Menschen, die eine völlig unverständliche Sprache sprechen ...?
Was wäre dann?
Man klammert sich immer an eine Regelmäßigkeit, die Sicherheit gibt: die Abfolge der Tageszeiten, der Wochentage oder gar dem sekündlichen Ticken einer Uhr. Würde keine Uhr mehr die Sekunden, die Stunden anschlagen, oder wäre dieser Rhythmus unstetig, an was könnte man sich klammern, an was sich orientieren, die Zeit einteilen, die tägliche Routine festmachen? Zwischen ihrer Routine blickt die Frau gerne auf die Straße, die Autos, die vorbeifahren; die Menschen, die vorbeigehen – oft die gleichen, aber manchmal auch besondere.
Sie dachte zuerst an einen Vogel, der so herrlich zwitschert, singt, dachte an Frühling, roch den Duft blühender Frühlingsblumen, bis sie dann feststellte, dass jener Mann auf der anderen Straßenseite, der an einer Tür klingelte es war, der pfiff wie ein Vogel.
Es stellte sich, als sie dem Gespräch auf der anderen Straßenseite lauschte, heraus, dass es ein Vertreter war, für Kochtöpfe, der auf diese Weise Menschen in seinen Bann zog, auf sich aufmerksam machte.
Für ihn professionelle Routine. Für die Frau ein kleiner Ausbruch aus der Routine, den sie später immer wieder erzählte, bis auch dies zur Routine wurde.
Noch jung ist der Frühling, unreif und verspielt, trägt noch die kalten Reste des Winters mit sich in der kalten Luft. Nur die Strahlen der Sonne geben Wärme.
Morgens, wenn die Sonne noch nicht zu ihrer vollen Kraft erwacht ist, scheint alles zu schlafen - müde und reglos das Gras, nur wenige Insekten scheinen gefallen zu finden an der noch nicht erwachten Wiese.
Große teilgraue Haufenwolken ziehen über den Himmel und bringen scheinbar den Wind mit sich oder haben ihn zumindest als Begleiter. Wenn dieser Wind durch die Blätter der Bäume rauscht, so scheinen sie zu reden - jeder in einer anderen Stimme. Je nach Art seiner Blätter, Form und Elastizität seines Astwerks ergibt sich bei jedem Baum eine andere, ihm eigene Stimme. Das mehr dumpfe Rauschen des einen Baumes wird von einem mehr hellen Gerassel eines anderen Baumes mit kleineren, spitzeren Blättern beantwortet.
Was sie sich wohl zu sagen haben an diesem Morgen?
Lange lausche ich dem Gespräch ohne eines der Worte zu verstehen. Ist es Tagesgeschwätz oder verbreiten die Bäume die Kunde vom Frühling?
Vielleicht muss ich nur lange genug lauschen, mein Denken zum Schweigen bringen, um ihre Stimmen zu verstehen ...?
All die vielen Dinge, die einen umgeben, die man kauft, mit denen man sich umstellt, die Leere der Wohnung füllt, mit denen man die Schränke und Regale bepackt – all diese Dinge befinden sich am Ende von Sackgassen. Es sind die Sackgassen, in denen erfüllte Wünsche enden. Ein Wunsch hat kein Ziel über seine Erfüllung hinaus, er endet, stirbt mit seiner Erfüllung, gleich dem verwelkten Blatt eines abgestorbenen Astes.
So ist der Mensch einem Baumstamm vergleichbar, feststehend in der Erde mit kraftvollem Stamm, der sein Wesen ausmacht, das jedoch in vielerlei Wünschen sich auswächst oder gar aus-wuchert.
All die vielen kleinen Ästlein sind Wünsche, die sich wie kleine Finger zaghaft in den Raum tasten. Jedes neu grünende Blatt ist ein erfüllter Wunsch, der durch Gebrauch verwelkt. All die Ästlein und Verzweigungen treiben die besonderen Lebensformen eines Menschen formgebend in den Raum.
Der Baum wächst nur bis zu der Grenze seiner ihm innewohnenden Form, die ihn unsichtbar umgibt – kein Weiterwachsen, kein Voranschreiten, keine Wunscherfüllung ist möglich über diese Grenze hinaus. So sind ihm auch nur jene Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen erreichbar.
Zu den äußeren Grenzen ausgewachsen hat er dann auch seine Lebensenergie verloren in den vielen Verzweigungen und Blättern, stirbt ab, tritt ein in den Kreislauf, der zu neuem Wachstum führt.
Ich fühle die starken Wurzelstränge, die mit angespannten Muskeln in die weiche Erde greifen. Sie gehen bis tief in dieses dumpfe vorbewusste Dunkel, ein dumpfer langanhaltender Ton drückt diese Bewusstseinsebene aus. Das Bewusstsein lauert in den Nischen dieses lichtlosen Erdraumes, doch findet es hier noch keinen Träger. Der Baum ist in diesem Wurzelwerk noch nicht als solcher vorhanden, erst dort wo das Licht beginnt, an der Grenzfläche zum unheimlich Dunklen, stellt er sich selbstbewusst auf.
Steif und nach innen gekehrt und gefestigt ist der kräftige Stamm, Wind und Wetter trotzend, gegen sie bestehend. Licht dringt keines in den Stamm , obwohl schon die Säfte in ihm nach oben streben, in der Gewissheit dem Licht in den Blättern zu begegnen -das Licht, das ihnen ihr fließendes Leben gibt.
Hier hat das Bewusstsein schon eine Richtung, zum Licht, fühlt vielleicht schon: Vorfreude, Sehnsucht, ein helles Vorgefühl, heller wird auch der Ton, pulsierender. Schneller fließt der Saft durch die dünner werdenden Stämme, die sich zu filigranen Astfingerchen verzweigen, immer schneller, immer heller, immer dünner die Trennlinie zum Licht.
Schließlich ist es die aufgespannte Haut zwischen den dünnen Sehen der Blätter, die das Licht segelgleich einfängt, sich erwärmt, die Säfte zu wildem Tanz erhellt, erwärmt zu ihrer weiteren Bewegung durch das Dunkel zum Lichte zurück, hell quietschende Freudentöne müssen hier vorherrschen, wie in einer freudig erregten Menschenmenge ...
Alles Physische, jeder Körper ist zunächst als Idee vorhanden. Die Form ist Ausdruck dieser Idee. Imaginiert man die Idee, wird man eins mit der Form, wird Mensch, wird Vogel, wird Baum, wird Stein.
„Drei Euro zwanzig“ benennt die Verkäuferin hinter der Brottheke mit fester, bestimmter, die sonstigen Geräusche des Vorraums zur Seite drängenden Stimme den Preis der Backwaren. Durch diese äußere, konzentrierte Bestimmtheit kaschiert sie jedoch auch nur ihre Unsicherheit im Umgang mit der neuen Währung, indem sie jeden einzelnen Schritt lautstark betont – fast so, wie ein Erstklässler dem Lehrer das kleine Einmaleins nachspricht, bis es sitzt. Einige Frauen vor der Brottheke lachen leise über diesen unnatürlich modulierten, gekünstelten Ton, der fast karikaturartig wirkt.
Die schon etwas bejahrte Verkäuferin hinter der Fleischtheke hat sich (über die Jahre wohl) einen stereotypen Verkaufston-Singsang zugelegt (oder war er gar Teil ihrer Ausbildung?). Ihr überlautes, nach dem Abwiegen jeder Wurst- oder Fleischware aufs neue ab-gespultes „Sonst noch ein Wunsch?“ wirkt durch die völlig falsche Betonung und das Fehlen des Blickkontakts zum „Vor-der-Fleischtheke-Stehenden“ unpersönlich, mechanisch. Erst bei etwas ungewöhnlichen Wünschen, die nicht im Bereich ihrer Routinehandgriffe liegen - Waren, die sich nicht in der Auslage, in ihrem Angebot befinden, stockt sie kurz, als könne sie sich nicht entscheiden zwischen Verkaufston und Privatton, menschlichem Ton.
Dieses Umschalten zur natürlichen Modulation findet jedoch auf sprachlicher Ebene nicht statt. Sie stellt den persönlichen Bezug dann jedoch durch besorgtes Sich-Bemühen den Wunsch des Menschen vor ihr zu erfüllen doch her, baut eine sehr schwache, kaum wahrnehmbare, zwischenmenschliche, natürliche Verbindung auf. Erst beim Aushändigen der Ware, begleitet von der mechanischen Grußformel „ ... und einen schönen Tag noch!“, erfolgt ein kurzer Blickkontakt, zu kurz, um die nötige Spannung aufzubauen, die einem persönlichen, menschlichen Gespräch vorangeht. Der Blick ist vielmehr eine Kontrolle der Bewegung ihrer Hand, ein Sich-Vergewissern, ob der Kunde die Ware auch annimmt, noch da ist, ihre Geste nicht ins Leere läuft.
Die Verkäuferin an der Kasse spricht Kunden auch persönlich an, wenn diese leicht verzweifelt ihre Blicke durch die Warenregale streifen lassen:
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“.
Sie moduliert, betont, spricht in menschlicher, natürlicher, fast persönlicher Art, unmechanisch – zumindest in jenen Momenten. Man spürt fast den Drang, ein Gespräch zu beginnen. Jedoch gleich beim Einscannen der Ware verfällt auch sie wieder in ihr maschinenhaftes Routineverhalten, nennt mechanisch den Preis. In dem folgenden Moment des Geldauskramens, Bezahlens öffnet sich dann wieder ein kleines Fenster für ein Gespräch, sofern sich ein Anknüpfungspunkt findet. „Was mag in diesen Menschen vorgehen? Verspüren sie nicht den Wunsch nach echter Unterhaltung, persönlicher Hin- und Zuwendung ?
Sind viele durch die tägliche Routine so sehr abgestumpft, durch die ständigen Wiederholungsfloskeln so getaktet, dass sie auch im Privatleben diesen automatenhaften Ton mit der fehlenden Gedanken- und Gefühlsverkettung anwenden, zu keiner natürlichen Modulation des Tones mehr fähig sind?“
Unterhält man sich mit einem Menschen, sieht ihm ins Gesicht, sieht seine Mimik, seine Reaktionen auf das Gesagte, hört den Klang seiner Stimme, seine Worte, sieht seine Bewegungen, so bilden sich Gedanken, Gefühle, die artikuliert werden, die Sprache modulieren, über Gefühle wie Sanftmut, Hinwendung, Verständnis oder auch Aggressivität, Frust, den Worten, Begriffen eine Gefühlsschwingung aufprägen, den ansonsten toten, rein informativen Wortbrei erst beleben, strukturieren, nuancieren, unterschiedlich gewichten. Doch auch Wortbrei, wie in Büchern, kann lebendig sein, wenn er durch Empfindungen (des Lesenden, wie des Schreibenden), durch intensive Wahrnehmung moduliert, geformt ist.
Anstatt der Warenregale durchstreife ich nun Bücherregale.
Ich muss in die Hocke gehen, um auch die Titel der untenstehenden Bücher erkennen zu können. Mein Mantel streift dabei über den vom Schneematsch an den Stiefeln der Besucher verschmutzten PVC-Boden. Durch die Lücken zwischen Büchern und Regalböden dringt die Stimme des älteren Mannes, Mitte sechzig, der sich mit der Frau, die „lesend hinter einer Theke die Buchausleihe überwacht“, unterhält.
Er sagt, er sei nun in Pension, im Ruhestand. Wohl deshalb findet er wohl auch Zeit sich Bücher auszuleihen und während der üblichen Arbeitszeit zurückzubringen. Auf die Frage, was er denn gemacht habe, wo er gearbeitet habe, ändert sich dann grundsätzlich die Modulation seiner Worte. Man vernimmt Begriffe wie „ATOMPHYSIK, UNIVERSITÄT“, durch deren spezielle Betonung und Reihung er sich gleichsam aufplustert, größer macht und schließlich noch weiter ausholt, sein Revier erweitert: „Meine Tochter steht kurz vor dem Examen. Sie muss noch 13 Prüfungen ablegen.“ als schwere Tragsäulen hinzufügt das geistschwere Begriffskonstrukt zu tragen.
Nach einer kurzen Pause, so als prüfe er die Stabilität des Tragwerks, sowie den sprachlos staunenden Blick seiner gebannt lauschenden Zuhörerin, legt er den letzten, alles entscheidenden schwersten Begriff mit leiser Stimme obenauf, wie man bei einem Kartenhaus vorsichtig die letzte Karte auflegt, die alles zunichte machen kann, von der alles abhängt: die „PROMOTION“ seiner Tochter, die eigentlich in diesem, von ihr angestrebten Beruf wichtig, karrierebestimmend sei.
Die Frau hinter der Theke, die bisher nur mit staunenden „Jaja“ - Wiederholungen das verbal-begriffliche Aufplustern kommentiert hat, fast zur Ohnmacht beeindruckt, konturiert sich nun schwach, um nicht hinter all dieser Größe zum unbedeutenden, nichtigen Staubkorn zu verkümmern mit einem personenwertsteigernden Begriffsgewicht: „PHYSIK“ – ein Grenzpfahl, der ihr arg zusammengeschrumpftes Gebiet begrenzt, den Expansionsdrang des Mannes für einen Moment zum Halten bringt. Sie bemerkt, dass sich auch in ihrem Verwandten- oder auch Bekanntenkreis ein Physiker befindet.
Es hat gewirkt. Der Mann akzeptiert die Grenze, akzeptiert die Frau, ihren Wert.
Von dieser plötzlich den Raum erfüllenden Geistigkeit, von diesen schwergewichtigen Begriffen fühle ich mich fast erschlagen, minderwertig. Beschämt wende ich mich von den Romanen und Erzählungen ab und suche Literatur, die dieser nun den Raum erfüllenden Modulation gerecht wird:
Begriffsgewichte, die auch ich entgegensetzen kann, zumindest im Geiste. Ich suche Bücher mit Vokabeln wie Physik, Atomphysik, promoviert habe ich leider nicht und ich beabsichtige es auch nicht.
Ich entdecke den Namen „Jean-Paul-Sartre“, ein Damm der die schwere geistige Flutwelle kaum aufhalten, höchstens brechen kann. Ich brauche stärkere Begriffe: „Turgenjew, Tolstoi sind zu schwach, auch „Rilke“ kann nicht dieser Urgewalt standhalten.
Aber in diesem Stockwerk befinden sich eben nur Romane, Erzählungen, Werke von Schriftstellern – ich erkenne langsam die Sinnlosigkeit meines Unterfangens.
Die wissenschaftliche, schwergewichtige Literatur mit den Begriffen „Physik, Atomphysik“ ist im oberen Stockwerk, aber sie interessiert mich eben nicht. Das „UNIVERSITÄT-ATOMPHYSIK-EXAMEN-PROMOTION“- Schwergewicht mit seiner überwältigen Begriffsgröße hat den Raum innerlich triumphierend verlassen. Ich strecke die Waffen.
Da das hohe geistige Niveau mit ihm den Raum verlassen hat, entscheide ich mich für „Musil“, „Lenz“ und „Tschechow“, die ich in einer billigen Plastiktüte mit der Aufschrift „echt billig“, leicht beschämt, nach Hause trage. Auf dem Heimweg versuche ich alle Menschen, die mir begegnen an diesem „4-Begriffs-Schwergewicht“ zu messen (wäre es Körpergewicht müsste ihr Träger riesige Löcher in den Boden stapfen). Ich versuche den Menschen, die mir begegnen, ähnliche Begriffe oder Attribute zuzuordnen:
Einem Chinesen und seiner Frau, die sich ihrem Kleinwagen nähern; einem bemützten Mann, der, mit der Tasche in der Hand, eine Bäckerei verlässt; dem Obdachlosen, der vor dem Supermarkt an einer Bierdose nippend herumlungert – keinem von ihnen kann ich ähnlich schwer-geistige Begriffe zuordnen. Alle fallen sie durch dieses Anforderungsraster. Menschen und Lebensläufe, Begriffe und Methoden, Titel, Berufe, Karrieren. Einige wollen, dass man zu ihnen hinaufblickt – auf andere blickt man hinab. Man geht aneinander vorbei.
Kein persönliches Gespräch in natürlich modulierter Sprache findet statt.
Gerne spaziere ich an jenem Bach entlang, beobachte die Spiegelungen der umstehenden Bäume im Wechsel der Jahreszeiten und im Wechsel der Tageszeiten.
Das saftige, junge Grün im Frühjahr, die intensiven Farben im Herbst, wenige noch übriggebliebene, verdorrte Blätter im Winter.
Wie viele Blätter hat eigentlich ein Baum?
Die Frage lässt sich wohl genauso wenig beantworten wie die Frage nach der Anzahl der Sandkörner in der Wüste.
Wie viele Leben hat ein Mensch – so viele wie Blätter an einem Baum sind?
Ein Leben mit all seinen Sorgen und Ängsten, seinen Hoffnungen, Wünschen, Ereignissen - nur ein Blatt an einem Lebensbaum. Der Blick ist jedoch immer nur auf ein Leben, auf dieses Leben, beschränkt. Es ist wichtig dieses Leben so wie es ist als notwendigen Schritt einfach zu leben.
Jedes Blatt am Baum hat seine Bedeutung, ist gleich viel wert, ob es nun in der Krone der Sonne entgegenwächst oder sein Dasein im Schatten fristet.
Kein Blatt ist sich der Größe des Baumes bewusst. Es wächst im Frühjahr aus einer Knospe, wechselt im Laufe der Jahreszeiten, im Laufe seines Lebens die Farben, fällt im Herbst vom Baum, wird zu Humus, der dem Baum Nahrung für neue Blätter liefert.
Alle Formen wandeln sich. Die Form, mit der man sich identifiziert, an der man hängt, ist nur ein Ausschnitt aus einer Entwicklung, eines Musters in Zeit und Raum, das man aus seiner begrenzten Sicht nicht sieht.
Früher Morgen. Die Wellenberge spielen noch mit den hellen Lichtbällchen, die ihnen die Sonne zuwirft, verschlucken einige davon, werfen andere als Strahlen zurück in die Augen Vorbeigehender. Die Katze schleicht die Böschung hinab auf den befestigten Streifen am Rande des kleinen Baches – dort bleibt sie abrupt stehen und fixiert den Eindringling oberhalb der Böschung mit festem Blick.
Auch er schaut ihr in die dunklen Augenlöcher und spürt ihre aufmerksames Abwägen der Gefahr und ihre sprungbereite Fluchtbereitschaft. Doch etwas Dunkles, Ungreifbares nähert sich von hinten der schwarzen Katze. Der kalte Schatten des Vorbeigehenden streift langsam über ihr Fell, sie schaudert, wirkt gebannt, schaut entsetzt wie die dunkle Bedrohung sie stückweise des Lichtes beraubt. Als der Schatten über ihre Augen zieht, zuckt sie kurz zusammen, ein Fluchtreflex.
Schließlich ist alles vorüber. Sie schleicht weiter.
Der Schatten – ist es jener unerkannte, ungelebte, dunkle Teil der menschlichen Seele, all das vom Tagesbewusstsein verdrängte?
Es muss nicht immer das Böse sein. In diesem Falle wäre die Katze wahrscheinlich geflüchtet, vielleicht hätten ihre Haare sich gesträubt?
Tagsüber zeigt ein jeder seine Sonnenseite, passt sich an, gibt sich gemäßigt, wohlerzogen, freundlich. Doch was wäre wenn sein Schatten statt seiner Lichtseite einmal einen seiner Lebenstage lebte...
Eine Schar Ameisen strömt mir entgegen, fast der ganze Boden scheint in Bewegung, zu spät reagiere ich, zertrete einen Teil des wandernden Volkes, das seine Eier mit sich trägt um woanders neu anzufangen. Es tut mir leid. Ihr Ziel wüsste ich gern.
Der Boden ist an anderer Stelle mit bunten Flecken betupft, die sich auch bewegen, paarweise meist aneinanderhängen, manchmal sich auch wie bunte Kugeln um etwas schließen, das ich nicht sehe – Nahrung vielleicht. Es sind Zikaden. Orange-getupftes Schwarz oder umgekehrt. Den Kern der Zikadenkugel würde ich gerne ergründen ...
Eine Frau, eine junge Frau kommt mir im noch jungen Morgen entgegen, zunächst nur eine anonyme Masse Mensch, deren Näherkommen ich spüre, mit zu Boden gerichteten Pupillen erst nur schemenhaft wahrnehme.
Doch als sie vor mir steht hebt sie ihr Haupt und ich das meine. Sie ist so wohlgeformt, so glatt, enganliegend ist ihr Haar, wie die grüne Hülle um eine Kastanie, so fein der Kopfform angeschmiegt, das warme Rotbraun, ihr wacher, frühlingshafter Blick. Es ist fast als öffne sich eine Blume vor mir, für mich nur an diesem jungen Morgen.
Oh, was ich in diesem kürzesten Moment empfinde – tausend Worte können es nicht beschreiben, das Seelen erwärmende, das Herz erleuchtende, das Entflammende, Blühende ...Ihre Seele sähe ich gern.
Das Ziel, der Kern, die Seele. Die Seele ist der Kern des Menschen. Die Seele zielt auf Gott, ihn zu finden.
In jeder Stadt sitzen Bettler an den Rändern der Geschäftsstraßen, hoffend auf Mitleid vorbeigehender Passanten in Form eines Geldbetrages. Geld führen alle diese Passanten mit sich, um es in den Geschäften gegen Waren einzutauschen, meist Dinge, die nicht wirklich notwendig sind, die man in anderer Form bereits mehrfach zu Hause stehen oder liegen hat.
Geld ist die Kumulation nicht erfüllter Wünsche oder die Möglichkeit sich solche Wünsche zu erfüllen, Wünsche, die über die reinen Grundlebensbedürfnisse hinaus gehen. Seltsamerweise verlieren diese Wunschgegenstände, wenn man sie gekauft hat, in Händen hält, ihre Anziehungskraft, ihre Besonderheit - sie werden zu einer Banalität unter hundert anderen Banalitäten im Schrank, auf dem Regal...
Welche Wünsche hat der Bettler? Was treibt ihn dazu sich so zu erniedrigen, sich an den Rand der Straße zu setzen?
Viele sitzen eher teilnahmslos da, blicken ins Leere, desinteressiert, frustriert, enttäuscht – die Antwort liegt in der Geschichte dieses Menschen, die nur er selbst kennt. In Prag saß ein Bettler, der seine Füße offen zeigte. Die Zehen waren amputiert. Ein junges Pärchen ging zunächst, wie viele andere auch, verdrängend-achtlos vorüber. Nach einigen Metern, nach denen der Eindruck des Gesehenen in der jungen Frau innerlich etwas bewirkt hatte, blieben beide stehen: „ ... er tut mir so leid ...“, konnte man im Vorbeigehen hören. Beide gingen wieder zurück. War dies bloßes Mitleid oder schon Mitgefühl?
Ein sehr tiefes Gefühl, eine sehr tief sitzende Verzweiflung war es wohl auch, die den jungen Mann in jene kniende Demutshaltung trieb: auf einem kleinen Kissen kniend, streckte er mit verzweifeltem Gesichtsausdruck bettelnd, bittend die Arme vor, die Hände zu einer schmalen, spitzen Schale geformt. Das Spüren dieses Gefühls, das ihn in diesem Moment beseelte, das ist Mitgefühl – eine kurze gefühlsmäßige Gleichschaltung, ein Kurzschluss. In welcher Lebenssituation muss man sich befinden, welche Lebensgeschichte kann in solch einer erniedrigenden Geste münden.
Weiter unten, am Ende der Straße, scherzt ein Mann: „...meine Frau kann ich nicht alleine einkaufen schicken, sie gibt immer so viel Geld unnötig aus.“. Auch mein Konto ist wieder leer, durch unnötige Ausgaben mit denen ich mir unnötige Wünsche erfüllt habe, deren Gegenstände nun achtlos im Regal herumliegen, ...
Ebenso wie im Leben gibt es in der Natur keine geraden Linien. Alles verläuft auf verschlungenen, undurchschaubaren Pfaden in gekrümmten, verwobenen Linien.
Der Mensch bevorzugt überschaubare, klare Wege, Linien, plant sein Leben, will es überblicken, den Weg sehen, kennen, bevor er ihn geht.Bei einer Allee, einer geraden Straße ist der Verlauf von weitem sichtbar, am Anfang schon das Ende zu erkennen (woher jedoch weiß ich, ob ich das Ende erreiche, wer meinen Weg kreuzen wird, was, welche Ereignisse vor mir liegen ...?)
Es gibt Städte, die am Reißbrett konstruiert scheinen, überschaubar – von vielen langen, geraden Straßen durchzogen.
Die Wege im Wald sind verschlungen, nicht überschaubar, übersehbar, durchsehbar – man muss sie sich erst bahnen, stückweise tastend ergehen, nicht voraussehend, was einen erwartet auf dem noch vor einem liegenden Weg.
Eine Zeichnung kann man konstruieren oder mit Linien erfühlen, ertasten, erleben, erkunden.
So plant man sein Leben wie eine Konstruktionszeichnung, folgt in Gedanken den gewünschten Lebenswegen auf einer imaginären Plan- oder Wunschlebenskarte. Doch ohne es zu wissen, durchwandert man einen Wald - verschlungen seine Pfade, Ereignisse, Begebenheiten.
Eine Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, in der Theorie zumindest – im Leben, der Natur sind die Dinge durch unsichtbare, verschlungene Linien verwoben, eingewoben in das Ganze.
Eine Großmutter, unterwegs mit ihren drei Enkeltöchtern, die sich alle sehr ähnlich sehen, so als hätte man aus dem Leben eines Kindes jedes Jahr ein Stichprobenexemplar genommen ...
Zumindest eines dieser Kinder besucht wohl die Grundschule. Mit gerötetem Kopf beäugte sein noch junger, leicht überforderter Verstand die mit einer Fülle von Wissen bedruckten bunten Pappstreifen, die zu einer Art Fächer verbunden waren und die seine Fingerchen etwas orientierungslos suchend hin- und her drehten.
„Ein typisch chinesisches Gewürz...?“
Antworthungrig wartete die Frage der Großmutter, deren Intellekt gerade den Buchstaben einer Kunstzeitschrift mit drei Kleinbuchstaben im Titel aufmerksam weiterblätternd folgte, lauernd auf die Antwort des Kindes. Das Kind fand die Antwort des Lehrers nicht. „Setzen. Sechs!“„Ingwer“ wäre, denke ich, die richtige Antwort gewesen.
Ein Wort. Ein Begriff unter vielen auf den bunten Kärtchen des Fächers, die später im Lernleben oder Wissensleben des Kindes vielleicht durch eine Enzyklopädie ersetzt werden. Wie schmeckt Ingwer? Wie fühlt er sich an, wenn man ihn aus der noch feuchten Erde zieht, mit den Händen? Wie riecht er? Welche Farbe hat er? In welchen Gerichten wird er verwendet?
Das sagen die Kärtchen nicht – denn man kann das Wort „Ingwer“ nicht an ihnen schmecken, riechen, fühlen. All die Begriffe auf den bunten Kärtchen sind leblos, wenn man sie nicht mit den Sinnesorganen erlebt, erfühlt, ertastet, erriecht, erschmeckt... Anhäufung eines Wissensturmes aus Begriffen, der größer sein muss als der anderer Kinder, damit das Kind im Lebenskampf besteht, dem Lehrer antworten kann und auch auf all die anderen Fragen im späteren Leben immer eine Begriffsantwort parat hat, scheinbar alles weiß, unerschütterlich sicher muss das Kartengebäude aus Begriffen dem Kind seine Selbstsicherheit geben, obwohl diese Selbstsicherheit nicht durch Erfahrungen untermauert ist – ein babylonischer Turm...
All die vielen Quizshows, die nur Wissen abfragen. Wer alles beantwortet, kriegt ein Eins. Wer durchfällt, eine Sechs und ist dadurch wertlos, untauglich fürs Leben. Ich habe jetzt gar nicht mitbekommen, ob das Kind nun seine Eins gekriegt hat.
Eine neue Szene:
Die Großmutter zeigt zweien der Kinder Abbildungen aus der Zeitschrift, die ihrer Geisteswelt entspricht – den Gesprächsfetzen nach Aktzeichnungen in moderner Manier. Dafür spricht auch das Fehlen von Verlegenheitsreaktionen, Kichern seitens der Kinder, aber vielleicht haben sie in ihrem Alter ja noch keinen Bezug zur Sexualität. Auch das sinnlich-intuitive Thema Kunst wird durch die Werkzeuge des Intellekts, durch Abstrahierungen und Begriffsbildungen seiner lebendigen Grundlage enthoben, von Menschen, die fertige Kunst mit dem Verstand nachzuvollziehen suchen, sie in enge Begriffe zwängen wollen. Dieses Einzwängen in Begriffe wird zu nachvollziehbarem, in Begriffsportionen vermittelbarem Wissen. Kann diese Frau zeichnen, malen, ein Kunstwerk schaffen?
Es ist wie der Unterschied zwischen einem lebendigen, fließenden, von Fischen belebten, von Bäumen, Gräsern umstandenen, je nach Gemüt schnell oder langsam fließenden, leisen Baches oder den brüllenden Stromschnellen eines Flusses und dem Begriff „fließendes Gewässer“ oder der blauen Linie auf einer Landkarte.„Wie würdest Du dieses Bild lesen?“, fragt ein junger Mann, Schüler oder Student seine Freundin. Beide stehen in der Alten Pinakothek vor einem Bild Rembrandts: „Die Opferung Isaacs“. Später entdecke ich im Museumsshop ein Buch: „Wie liest man ein Bild?“.
Da werden dann Konstruktionsprinzipien und Linien gesucht, Kompositionslinien, Farbkontraste ... immer nach dem gleichen Schema wird an so unterschiedliche Bilder herangegangen. Der Verstand will verstehen, Antworten auf die Fragen des Lehrers finden. Man will die „Eins“.
Weiß dieser, wie der Entstehungsvorgang eines Bildes abläuft, was im Innern des Künstlers vorgeht, das Zeit und Bewusstsein sich im Schaffensprozess fast völlig auflösen, der Verstand zurücktritt? Vor einem Gemälde Raffaels (glaube ich –auf jeden Fall ein italienischer Meister) steht die Frage: „What makes Raffael Raffael?“ einer asiatisch aussehenden Lehrerin vor einer das Bild umsitzenden Schulgruppe. Schon schießt ein Junge auf (wie eine Eins), ein Blatt Papier in der Hand, wissenschaftlich referierend, das Bild abgrenzend zu anderen Bildern oder Begriffen von Bildern... Er kriegt die Eins.
Hat er je selbst eine Zeichnung, ein Bild angefertigt...?
Der Zugang zu Dürers „Die vier Apostel“ und den Bildern daneben ist versperrt durch einen Halbkreis Wissenshungriger.Kaum einer betrachtet das Bild, lässt sich darauf ein, lässt es auf seine Seele wirken umso jene des Künstlers zu erfühlen, eine zeitlose Verbindung zu dieser aufzubauen. Man füllt lieber sein Gehirn, seine leeren Begriffshüllen mit dem Wissenswortschwall der Autorität vor dem Bild, die erzählt wie man es lesen, wie man es verstehen muss - eine mir ewig scheinende Zeitspanne - über die Zeitumstände referierend, die das Bild umgaben, seine Besitzer ...
Leider gehen die meisten kunstgeschichtlichen Betrachtungen mehr auf die Umzeit und Geschichte des Bildes, die Zuordnung dargestellter Personen zu damals Lebenden ein als auf das Bild selbst. Haben diese Menschen je ein Bild wirklich betrachtet?
Ist Bildung das Vermögen möglichst viele Fragen des Lehrers beantworten zu können?
Der Fächer des kleinen Mädchen ist Sinnbild der Wissensfächer, deren viele Fragen es noch in seiner schulischen Ausbildung wird beantworten müssen, damit es seine Einsen bekommt, im Leben besteht, seinen Kindern auch solche Fächer schenkt, sie nach dem typisch chinesischen Gewürz fragt, von dem es bis dahin sicher irgendwann auch mal gegessen hat, ohne es zu wissen ...
Ich denke an den wunderbaren Frühlingsmorgen vor einigen Jahren, die jungen verspielten Hunde, die so voller Lebensfreude um ihre Mutter hüpften. Diese schien eher abgeklärt, ließ die Jungen aber gewähren...
Eine Frau, die den Parkplatz überquert, vor der Fassade des Einkaufszentrums innehält - auffallend ihr Adlerprofil, die Adlernase. Adlergleich späht ihr Blick in den Raum, sucht...
Der Mann, der seinen Bauch wie eine Kugel, fast präsentierend vor sich herträgt oder schiebt ... mit fast hüpfenden Schritten, wesentlich und authentisch wirkte er in diesem Moment.
Die junge Frau, die nur aus Beinen zu bestehen scheint, in langen Schritten gehend, voller Harmonie und Authentizität...
Es war mir so als hätte ich bei diesen beiden Menschen ihr Wesen geschaut: der Kugelschieber und die Geherin.
Der verkrüppelte Bettler, der auf eine Krücke gestützt, mahnend seine Hand dem Vorübergehenden entgegenstreckt, dabei den Papierbecher mit den wenigen Münzen schüttelt und fast anklagend etwas Unverständliches murmelt...
Die alte Bettlerin, die aufdringlich, einem Reflex folgend, sowie sie in die Nähe eines anderen Menschen gelangt, sofort aus dem lockeren Plaudergang mit ihrer Begleiterin ihre Rolle wechselt hin zur gebeugten Bettlerhaltung, unterwürfig, armselig, menschenunwürdig und bei abweisender Geste durch das Opfer sofort wieder in den vorherigen Modus zurück wechselt, bis zum nächsten Opfer. Die beiden Bettler würde ich eher als Schauspieler sehen, ohne Authentizität und Zentriertheit, verlorene Seelen...
„Wo ist eure Würde, eure Seelengröße?“, möchte ich ihnen zurufen. „Menschen seid ihr!“
So manifestiert sich das Leben in einer unüberschaubaren Vielfalt von Formen, denen man aber eine begrenzte Anzahl von Grundmustern, zumindest des Verhaltens ansieht - manches echt, anderes gespielt, nicht authentisch.
Wirkliche Lebensfreude, unverfälscht sieht man eigentlich nur bei Tieren.
Das Leben gleicht dem Entlanggehen an den Bäumen einer Allee. Eine gerade, übersehbare Straße, deren Ende man vor sich sieht.Je näher man dem Ziel kommt, desto mehr Zeit vergeht. Jeder Baum, an dem man vorbeigeht, den man hinter sich lässt, ist eine weitere verstrichene Zeiteinheit.
Ist dies auch der Grund für das Wahrnehmen von Alter, von Zeit allgemein:
Man sieht ein Ziel oder einfach nur einen Endpunkt und sieht die abnehmende Distanz zu diesem Endpunkt.
Doch die Wahrnehmung hat noch eine andere Dimension: die Breite (und auch die Höhe). Die Bäume, die links und rechts stehen, der Bach, der rechts entlang fließt, die Wiese zur linken, die im Hintergrund in eine unendlich scheinende Landschaft übergeht, der Himmel. Die Geräusche: das sanfte Plätschern der Quelle, die in den Bach mündet, die vorbeifahrenden Autos, das Gespräch der Menschen, die Jogger, die Radfahrer, die Spaziergänger mit ihren Hunden, die Wolken über alle dem.
Die achtlos weggeworfene Plastikverpackung. Auch sie hat ihre Geschichte. So ist jedes mit allem verwoben. Meine Gedanken, jene des Joggers, die Wiese, der Baum, die Plastikverpackung, die Enten, die die Straße überqueren.
Teile eines Ganzen. Nimmt man so in die Breite wahr, verschwindet Zeit, wird ersetzt durch Sein.
Ist es möglich vollkommen eins zu werden mit dem Sein, auf Bewusstseinsebene, Zeit völlig auszublenden?
Ich weiß es nicht.
Nehmen Kinder die Zeit weniger wahr, weil sie mehr in die Breite wahrnehmen? Bei Erwachsenen wäre es dann wohl genau umgekehrt.
Eine Überfülle von Wasser strömt in den Bach, der an seiner Mündung fast einem reißenden Strom ähnelt. Der Boden unter meinen Füssen ist matschig, übersättigt mit Wasser, wie das Hemd des Joggers, der mich gerade überholt, von Schweiß durchnässt ist. Die Zeit muss für ihn schneller vergehen, da er dem Ziel entgegen rennt. Ein anderer Jogger mit vier jüngeren Frauen überholt mich. Drei der Frauen sind erschöpft und gehen weiter.
„Ich werde in zwei Jahren 63“, atmet er aus und bewegt sich mit seinem o-beinigen Laufen, das eher an ein schnelles Gehen erinnert, demonstrativ weiter.
61, 62, 63...
Der Zug fährt gleich einem Lichtstrahl in die werdende Dunkelheit. Eine ältere Frau, um die sechzig, betritt aus dem schwach von Leuchtpunkten durchsetztem Schwarz der Nacht das hell beleuchtete Großraumabteil. Die beiden Kinder, auf die sie heute aufpasst, weist sie auf ihre Plätze, die nach Ansicht der anderen Frau gleichen Alters zu weit von der Tür entfernt sind, da man sowieso an der nächsten Station wieder aussteigt.
Die erste Frau hat dünnes, langes, grünlich graues Haar, das hinten zu einem komplizierten Rundzopf, einer Art Haarschnecke, geflochten ist – ähnlich den kunstvoll geflochtenen Zöpfen, die man an germanischen Moorleichen sieht.
Der Zug fährt zu festgelegten Zeiten auf festgelegten Wegen, nach einem festgelegten Fahrplan.
„An welchem Bahnhof sind wir hier?“, fragt eine junge Studentin, die in der Dunkelheit kein Bahnhofsschild ausmachen kann. Die kleinen Bahnhöfe haben offensichtlich keine Schilder, keine Namen. Sie sieht auf ihren Vorlesungsplan, den sie die ganze Zeit studiert hat und schüttelt verständnislos den Kopf.
Zur linken unterhält sich eine andere Studentin mit einer Mutter über Ausbildungswege, Lebenswege, über Schulen – das Wort „Gymnasium“ fällt überdurchschnittlich oft. Die Studentin benutzt es als begriffliches Sprungbrett um auf die von ihr so wichtige Tatsache ihres Studiums an der Universität hinzuweisen, den von ihr gewählten Lebensweg, Bildungsweg, Berufsweg, von dem sie weiß, dass er sie gar nicht auf das Berufsleben vorbereitet.
Doch ein vorgezeichneter Weg gibt Sicherheit.
Sie hat sich vorher beim Berufsberater über mögliche Bildungswege informiert, die sicher sind, also später eine Stelle mit hoher Wahrscheinlichkeit garantieren. Ihren Neigungen folgt sie nicht.
Sie folgt den breiten, übersichtlichen, gut ausgeschilderten Straßen hinein in ein geregeltes Leben mit Schildern an ausgeleuchteten Bahnhöfen. Andere Menschen haben keinen solchen Fahrplan, keinen beschilderten Weg und wissen nie genau, wo sie sich befinden, wo sie aussteigen müssen. Auch die Mutter denkt in solchen Fahrplänen. Auch das Leben ihrer Kinder scheint fahrplangemäß abzulaufen, ohne Verspätungen, Gleisänderungen. Der Zug, in dem die Studentin und die Mutter sitzen, hatte eine viertel Stunde Verspätung und wird am Zielbahnhof an einem anderen Gleis einfahren.
Am nächsten Tag ist Allerheiligen.
Auch auf dem Friedhof ist alles geregelt, die Gräber geordnet, an gepflasterten Wegen liegend, wie die Häuser in einer Stadt, im Stadtplan übersichtlich geordnet. Fuhren auch die Lebenszüge jener, die hier liegen so planmäßig ihrer Endstation zu, war ihr Leben so geordnet, einem ebenen Weg folgend?
„Vielleicht sehen wir uns in zehn Jahren wieder?“, verabschiedet sich eine Frau in dunkelrotem Mantel geradlinig planend von einem Pärchen gleichen Alters, so als müsste sie nur in den entsprechenden Zug steigen um dann in zehn Jahren an eben diesem Ort wieder anzugelangen...